Chancengleichheit

Den heutigen Text wollen wir mit einem Gedankenexperiment beginnen: Eine Gruppe von zwanzig, sportlichen Leuten, macht ein Wettrennen um einen Gewinn. Zu Beginn stehen alle an der Startlinie.

Bevor das Rennen jedoch beginnt, tätigt der Schiedsrichter vier Aussagen, die es jedem Individuum ermöglichen, zwei Schritte nach vorn zu gehen, sofern diese im Einzelfall zutreffen. Bei Nicht-Zutreffen bleibt die Person dort stehen, wo sie ist.

Zunächst dürfen all diejenigen zwei Schritte nach vorn gehen, deren Eltern noch zusammen sind. Dann all die, die zu Hause immer etwas zu essen auf dem Teller haben. Als Nächstes darf zwei Schritte vorangegangen werden, wenn die eigenen Eltern noch nie finanziell unterstützt wurden. Und als Letztes dürfen sich all diejenigen vorwärts bewegen, die sich noch nie gegen eine Art der Diskriminierung wehren mussten.

Nach diesen Aussagen stehen nun nicht mehr alle an der Startlinie. Einige dürfen ihr Rennen acht große Schritte vor den anderen beginnen. Wiederum andere durften sechs Schritte nach vorn gehen, einige vier, manche zwei und manche stehen genau an der Linie, an der sie sich am Anfang aufgestellt hatten.

Plötzlich gibt es nicht mehr dieselbe Ausgangsvoraussetzung für die Teilnehmenden und das, obwohl alle getroffenen Aussagen nichts mit eigenen Entscheidungen der jeweiligen Person zu tun hatten. Und doch haben nun einige, die um die Wette laufen einen entscheidenden Vorteil gegenüber anderen unabhängig von ihrer eigenen Leistung.

Ist das fair? Nein. Entspricht das der Realität? Ja.

Im Januar habe ich mit dem Mini-Koordinator, Yannick Amoikon, über Chancengleichheit gesprochen. In seiner Position verantwortet Yannick seit vier Jahren die Trainingsgestaltung im Minibereich des Hamburg Towers e.V.

Für ihn liege Chancengleichheit grundsätzlich dann vor, wenn mit ähnlichem Einsatz die Chance bestehe, irgendwo anzukommen und nicht dadurch limitiert würde, welche Position Eltern oder Vorfahren bereits erreicht haben und Personen nicht aufgrund des Aussehens diskriminiert werden.

Im Sport beziehe sich laut Yannick die Chancengleichheit primär auf den sozioökonomischen Status des Einzelnen. Besonders im Kinder- und Jugendbereich haben zum Beispiel diejenigen einen Vorteil, deren Eltern über die finanziellen Mittel verfügen, um in den Ferien die Teilnahme an Camps oder gar Individualtraining zu ermöglichen. Deshalb sei es für Yannick wichtig, dass ab dem Zeitpunkt der Anmeldung und der Sicherstellung der Trainingsteilnahme, der Verein dafür sorgt, dass alle Kinder gleich viel lernen können und die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, um zum Beispiel am Spielbetrieb teilzunehmen

Oft, so schildert Yannick, sagen einige Eltern für ihre Kinder die Spiele am Wochenende zunächst grundlos ab. Erst auf Nachfrage kristallisiere sich dann heraus, dass keine Terminkollision zugrunde liegt, sondern die Eltern schlichtweg keine Möglichkeit haben, ihr Kind zum Auswärtsspiel zu bringen, weil es entweder an Zeit oder der Transportmöglichkeit fehlt. Die Verantwortung, auch diesen Kindern die Chance zu geben, am Spiel teilzunehmen, sieht Yannick gleichwohl beim Verein und dem jeweiligen Team.

Yannick nach liege es am Verein, Strukturen zu erschaffen, in der auch die Gruppe Verantwortung übernehmen kann. Es gebe in jeder Mannschaft einen gesunden Querschnitt der Gesellschaft und der solle sich zum Vorteil gemacht werden. So könnten durch das Engagement der einen, die – wie im oben gewählten Gedankenexperiment – mehrere Schritte vor den anderen starten können, die Chancendefizite derer ausgeglichen werden, die das Privileg der vorgezogenen Startlinie nicht erhalten haben.

Zum Abschluss macht Yannick deutlich, dass die Chancenungleichheit im Basketball sogar noch viel deutlicher zum Tragen komme als beispielsweise im Fußball. Nach Yannicks Einschätzung, gäbe es dort viel breitere, professionellere Strukturen, sodass die Abhängigkeit vom Förderverhalten der Eltern geringer wäre.

Um faire Chancen für alle – zumindest aber im Hamburg Towers e.V. – zu garantieren, liegt es also an allen, aufeinander zu achten und sich gegenseitig unter die Arme zu greifen, um am Ende allen die gleichen Chancen zu bieten, ihr Potenzial bestmöglich zu entfalten – und so vorgezogene Startlinien auszuradieren.